1. Frühzeit und Entwicklung
des Instruments in Japan
Im Standard-Musiklexikon Musik in Geschichte und Gegenwart ist seit 2016 ein Artikel über biwa online zugänglich, der aber in einigen Details nicht mehr den neuesten Stand der Forschung reflektiert (siehe: MGG, Silvain GUIGNARD: biwa https://www.mgg-online.com/mgg/stable/47084). Doch da es sich hier nur um einen Überblick über die Geschichte des biwa handeln soll, werden die problematischen Darstellungen älterer Literatur nicht direkt kommentiert und kritisiert.
Die Laute biwa ist ein Saiteninstrument, das seinen Ursprung in Mesopotamien hat. Hatten die ersten Lauten im Altertum eine Bespannung des Resonanzkörpers mit einer Tierhaut (wie das auch heute noch im Prinzip für die andere wichtige Laute Japans, das shamisen, der Fall ist) wurde doch schon spätestens in den Zeiten des Kulturaustauschs auf der Seidenstraße das ganze Instrument aus Holz hergestellt. Holz heißt auf Arabisch „Ud“, und so entstand aus ”der Hölzernen“ – der „el Ud“ – liuto, luth, die Laute. Ein wichtiger Zeuge für das Instrument, das in der ersten Hälfte des 1. Millenniums in den Fernen Osten gelangte, sind bildliche Darstellungen von ganz aus Holz gefertigten Lauten auf Silbergefäßen und -Tellern der Sassaniden-Zeit (224-651).
(Instrumente aus der Sammlung Guignard)
Auf Persisch hieß das Instrument barbat, was wörtlich „Entenbrust“ heißt. Als das Instrument China erreichte und in der T’ang-Zeit (618-907) zu einem der wichtigsten Instrumente der chinesischen Musikkultur aufrückte, erhielt es einen neuen Namen. Es wurde pipa genannt. Dieser Name könnte zwar auf barbat zurückzuführen sein, doch es gibt für diese Instrumentenbezeichnung auch eine andere, an der Spieltechnik orientierte Interpretation. Demnach wäre es auch möglich, dass es sich bei dem Namen um die onomatopoetische Imitation der wichtigsten Schlagarten mit dem Plektrum – „auf“ und „ab“ / „pi“ und „pa“- handelt. Dieser chinesische Ausdruck pipa wurde von den Japanern als biwa übernommen, als Japan sich im 7./8. Jahrhundert den koreanischen und chinesischen Hoch-Kulturen in großem Maße zu öffnen begann.
Das pipa/biwa kam vermutlich zunächst als Instrument des Hofmusik-Ensembles, das in Japan gagaku genannt wird, nach Japan. Im Kaiserlichen Schatzhaus von Nara (Shōsōin) sind mehrere biwa aus China (und überhaupt vom Festland) seit dem Ende des 8.Jahrhunderts aufbewahrt. Einige von ihnen sind mit Perlmutter-Intarsien und Edelsteinen aufs kostbarste geschmückt, andere weisen einen Plektrumsschutz mit Malereien auf, die verschiedene Seidenstraßen-Kulturen widerspiegeln.
Mit Ausnahme eines einzigen Instruments sind alle aus dieser Zeit erhaltenen biwa 4-saitig. Wie sehr dies der Standard war, zeigt ein dekoratives Detail auf dem einzigen 5-saitigen Instrument, eines prächtig dekorierten biwa, das wahrscheinlich aus Indien hergebracht und Kaiser Shōmu (701-756) geschenkt wurde. Der Plektrumsschutz zeigt einen biwa-Spieler, der auf einem Kamel sitzt. Er spielt jedoch kein 5-saitiges Instrument, sondern ein 4-saitiges, weil dies, so vermutet der Autor, eben die Norm war.
Abgesehen von kleinen Details ist das im heutigen gagaku-Orchester verwendete biwa, das als gaku biwa bekannt ist, mit den Instrumenten im Kaiserlichen Schatzhaus in Nara identisch. Seine musikalische Hauptfunktion im Ensemble besteht darin, den stärksten Taktteil der Hauptmelodie, die im 4/4-Takt transnotiert werden kann, mit einem Arpeggio zu akzentuieren. Das gaku biwa hatte auch ein Solo-Repertoire, von dem nur drei (vier) Stücke als „Drei geheime Stücke“ sanhikyoku in Abschriften noch bekannt sind. Diese Werke, deren Aufführungstradition aufgrund der heutigen gagaku-Aufführungspraxis rekonstruiert werden muss, gehören jedoch nicht zum Repertoire der Hofmusiker. (Der Autor hat alle vier Solo-Stücke für gaku biwa - basierend auf einer Abschrift des frühen 17.Jahrhunderts und aufgrund einer eigenen Rekonstruktion - in Basel am 20. Oktober 2009 für Radio DRS 2 aufgenommen.)
Außerhalb der instrumentalen solo biwa-Musik gab es auch eine Form buddhistischen Gesangs zur Begleitung des biwa, der von Priestern gepflegt wurde, von denen viele blind waren. Außerdem ist seit dem 10. Jahrhundert das Erzählen von Geschichten zur biwa-Begleitung dokumentiert. Aus diesen Traditionen heraus entwickelte sich das Erzählgenre des Heike Epos. 1185 endete die Hofkultur der Heian-Zeit (794-1185) mit der Schlacht von Dannoura. Diese Schlacht war das letzte von vielen tragischen Ereignissen, die in diesem Epos Heike monogatari (Abk. HM) besungen werden. Eine der frühesten Versionen dieses Werks wurde von dem blinden biwa-Spieler AKASHI Kakuichi (1279-1371) verfasst. Die Kakuichi-Ausgabe wurde zur Standardversion und stellt die Synthese der vielen am Ende des 12. Jahrhunderts verbreiteten bardischen Traditionen dar, die aus rezitierten Kampfberichten und Geschichten bestehen, welche die Tragik von Helden (eine Form von chinkon – d.h. einer Befriedung unerlöster Seelen ähnlich wie in Noh-Theaterstücken) beklagen.
Das verwendete Instrument heike biwa ist eine etwas kleinere Form des gaku biwa. Als Musikgenre ist heike biwa (auch heikykoku oder nur heike genannt) jedoch ein entscheidender Moment in der japanischen Musikgeschichte. Kakuichis Standardisierung der verschiedenen Traditionen wurde zur Grundlage für alle späteren biwa-Stile sowie auch für neue Erzählgenres, die viel später auftauchten, wie z. B. gidayū bushi, das mit Bunraku, dem Puppentheater, in Verbindung steht.
Obwohl das Sutra-Singen zur Begleitung des biwa musikalisch nicht so anspruchsvoll war wie das Genre des heike biwa, spielte es dennoch eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der biwa-Stile. Auf der Hauptinsel Honshu waren die biwa spielenden Priester als biwa hōshi oder „biwa-Priester“ bekannt, obwohl viele von ihnen nicht richtig ausgebildete buddhistische Priester waren (es handelte sich bei ihren religiösen Gesängen auch nicht um kanonisierte Sutren). Während der Edo-Zeit (1603-1867) wurden sie in die Blindenorganisation der Tōdōza integriert, eine äußerst mächtige Institution, die die Aktivitäten der biwa hōshi kontrollierte, ihnen – auf ihrer sozial niedrigen Stufe - eine gewisse Würde sicherte und ihnen auch einen bescheidenen Lebensunterhalt ermöglichte.
Die blinden biwa-Priester von Kyushu weigerten sich jedoch, dieser Organisation beizutreten, und bezeichneten sich als mōsō und ihr Instrument als mōsō biwa oder „biwa der blinden Priester“.
Kyushu trug wesentlich zur Entwicklung des modernen biwa bei. Im Süden dieser Insel liegt Satsuma, das als Gebiet der heutigen Präfektur Kagoshima entspricht. Für lange Zeit, bis weit ins 19.Jahrhundert war Satsuma nur schwer zugänglich. Es entstand eine eigene Kultur - auch mit der Pflege einer Sprache, die sich stark von den andern regionalen Sprachen Japans unterschied.
Das biwa entwickelte sich in Satsuma zu einem völlig neuen Genre: Das Singen von Sutren zur Begleitung von biwa war wenig einträglich, und so traten die biwa-Priester auch mit weltlichen Gesängen auf. Da sie aber nicht Mitglieder der Tōdōza-Organisation waren, war es ihnen verboten, für diese weltlichen Lieder das populäre shamisen zu benutzen. Sie begannen daher Ende des 17. Jahrhunderts, sich auf einer modifizierten Form des heike biwa zu begleiten. Diese Umformung entwickelte sich dann letztlich zum modernen satsuma biwa.
Der Hals des satsuma biwa hat vier hohe Bünde; die Tonhöhen werden durch differenziertes Drücken der Saiten zwischen den Bünden erzeugt. Dies erfordert bei hohen Tönen eine ansehnliche Kraft, doch Kraftaufwand ist eine Samurai-Tugend - wie auch das Aushalten von Schmerzen. Das große fächerförmige Plektrum, mit dem man beim Anreißen der Saite - Schwertschläge imitierend – bisweilen laut auf den Resonanzkörper schlägt, wird so gehalten, dass mindestens der Anfänger bei der vorgeschriebenen Griffweise des Plektrums Schmerz empfindet. Es versteht sich auch von daher, dass das Spielen des satsuma biwa ausschließlich Männern vorbehalten war.
Erst zu Beginn der Meiji-Zeit (1868-1912), wurde das Instrument über die engen territorialen Grenzen hinaus bekannt und wurde im 20.Jahrhundert auch Frauen zugänglich. Es veränderte sich musikalisch beträchtlich, und so ist es problematisch, die Musikkultur dieses Instruments mit seinem hochentwickelten Ansatz zur Improvisation weit in der Geschichte zurückzuverfolgen. Über das satsuma biwa-Spiel, das älter ist als gut 120 Jahre, wissen wir praktisch sehr wenig.
Mit Beginn der Meiji-Zeit, als das Land Satsuma entschieden geöffnet wurde, stammten bald viele Politiker der neuen Regierung in Tokyo aus diesem ehemals isolierten Gebiet. Das satsuma biwa nahm in der Hauptstadt eine kulturell wichtige Stellung ein; es hatte fast Kult-Status Die virilen Aspekte des Instruments wurden mit dem Nationalismus, der in dieser Zeit florierte, besonders geschätzt - nach der Überlieferung gab es Soldaten, die das Instrument schulterten, wenn sie in die Schlacht zogen. (Siehe die Ballade Saigō Takamori Zeilen 45.-50.) Das satsuma biwa verbreitete sich vom neuen Zentrum der Nation aus schnell im ganzen Land und brachte viele neue Stile hervor, von denen bis heute der bedeutendste die Kinshin-Schule ist.
2. Anfänge des chikuzen biwa
Als das satsuma biwa landesweit an Popularität gewann, entstand im Norden von Kyushu in der Region Chikuzen eine Bewegung mit der Absicht, ebenfalls ein neues biwa-Genre zu schaffen. Wie in Satsuma gab es in Chikuzen kein standardisiertes Instrument. Eines jedoch, das erwähnt werden sollte, ist das sasabiwa, ein biwa in Bambusblattform, das extrem schlank und leicht zu tragen war. Es wurde hauptsächlich von den Priestern auf den sog. dankamawari verwendet, jenen ausgedehnten saisonalen Wanderschaften zu den Bauern, die Mitglieder einer Tempelgemeinde waren. In den Küchen der Häuser dieser bäuerlichen Mitglieder führten die Priester Rituale zur Reinigung des Herdes (kōjinbarai) aus und begleiteten dabei ihre Sutren-Gesänge (jishinkyō) mit dem schlanken, leichten sasabiwa.
Nach solchen religiösen Zeremonien verlangte man von den biwa-Priestern, dass sie die Festgemeinde auch mit weltlichen Liedern und Darbietungen ergötzten. Mit den weitreichenden sozialen Veränderungen am Ende der Edo-Zeit (1603-1868) verfiel das Niveau solcher Unterhaltungen beträchtlich. 1987 besuchte der Autor den damals 91-jährigen Biwa-Spieler YOSHITSUKA Genzaburō in Fukuoka, der sich erinnerte, in seiner Jugend viele ungewöhnliche und unterhaltsame Dinge zum Besten gegeben zu haben. YOSHITSUKA spielte das biwa über seinem Kopf (kyokubiki, was allerdings eine uralte chinesische Tradition hat) und sang Abschnitte eines Textes vor, den man an der Grenze zur Pornografie ansiedeln müsste. Der verstorbene satsuma biwa Spieler FUMON Yoshinori in Tokyo erzählte dem Autor ähnliche Geschichten über den Niedergang der Unterhaltungskultur der biwa-Priester am Ende des 19.Jahrhunderts.
Diese Krise beunruhigte die berühmte Familie TACHIBANA, die sich (auf der Basis eines Dokuments aus dem späten 18.Jahrhunderts) in ihrem Stammbaum auf den „ersten“ blinden biwa-Spieler Gensei Hōnin (766-823) beruft. Sie bemühte sich um die Kreation eines neuen Stils, der im Laufe der Meijizeit chikuzen biwa genannt werden sollte. Man wollte mit einem neu konzipierten Erzählgenre das Gegenstück zum satsuma biwa schaffen, das seinen Ursprung ja im Süden von Kyushu hatte.
TACHIBANA Chitei (1848-1919) war die Hauptfigur in einer kleinen Gruppe von Musikern, zu denen TSURUZAKI Kenjō (ein weiterer Nachkomme einer biwa-Priesterfamilie in Fukuoka) und YOSHIDA Takeko gehörten, eine shamisen-Künstlerin aus dem Unterhaltungsviertel von Fukuoka, die bei TACHIBANA Chitei studierte. (Später verließ sie die Gruppe und machte als Rivalin zu Chitei Karriere in der biwa-Welt; sie trat schon früh auch in Tokyo mit dem biwa auf.)
Das Auftauchen einer shamisen-Spielerin in diesen Kreisen ist bedeutsam, da bis zu diesem Zeitpunkt biwa-Spieler und -Sänger, unabhängig vom Genre, immer Männer gewesen waren. (Diese Beschränkung scheint etwas merkwürdig, da Benzaiten, die biwa spielende Gottheit der Musik in Japan, weiblich ist.)
Die alte Saiten-Stimmung und einige Spieltechniken des chikuzen biwa sind eindeutig vom shamisen-Spiel abgeleitet, und es ist eine Tatsache, dass das erste chikuzen biwa-Plektrum nach jenem des shamisen geschaffen wurde. Es ist aber auch möglich, nach der Ansicht des Autors, dass eine ästhetische Komponente des neuen Genres auf YOSHIDA Takeko zurückgeführt werden kann: chikuzen biwa wurde immer als elegantes, weibliches Gegenstück zum männlich resoluten satsuma biwa angesehen.
Dennoch, TACHIBANA Chitei orientierte sich bei der Ausarbeitung seines Stils primär am satsuma biwa, denn dieses Instrument hatte sich ja schon lange vom Stil der blinden biwa-Priester entfernt und eigene kunsthafte Züge angenommen. Er trieb monatelang regelrecht Feldforschung in Kagoshima und andern Gegenden, um mit dem satsuma biwa vertraut zu werden. In einzelnen Zwischenspielen im Repertoire des chikuzen biwa kann man heute noch mit Sicherheit den Einfluss von Improvisationsmodellen des satsuma biwa erkennen. 1896 spielte TACHIBANA Chitei zum ersten Mal in Tokyo unter dem Namen Kyokuō – danach war er als TACHIBANA Kyokuō I. bekannt. Zwei Jahre nach diesem Auftritt gründete er seine eigene biwa-Gesellschaft, die er Tachibanaryū nannte. Alle Mitglieder dieser Schule erhalten unter ihrem eigenen Familiennamen bis heute einen Namen der Schulzugehörigkeit, dessen erstes Zeichen kyoku ist, “Aufgehende Sonne“, (das japanisch asahi gelesen wird).
Das erste und heute kaum mehr gespielte chikuzen biwa ist 4-saitig; das älteste Repertoire ist für dieses Instrument geschrieben. Die bescheidene Größe des 4-saitigen chikuzen biwa orientierte sich vermutlich noch am Instrument, das die blinden biwa-Priester in Nordkyushu spielten. Doch schon bald experimentierte Kyokuō I. mit einer Verbesserung des biwa. Er visierte eine 5-saitige Version an, deren Stimmung (e,H,e,fis,h) - eine Kombination der Saitenstimmung des 4-saitigen chikuzen biwa H,e,h,h) und des satsuma biwa (e,H,e,fis) ist. Dies sollte ihm nicht nur eine Bereicherung des Instrumentalstils ermöglichen, sondern auch das Prestige seiner neuen Kunst steigern. Er patentierte dieses Instrument 1910. Auf dem Cover der Biografie von TACHIBANA Kyokuō I. Das Epos des chikuzen biwa(ŌTSUBO Sōjirō, Chikuzen biwa monogatari,1983)ist das 5-saitige biwa aus dem Kaiserlichen Schatzhaus in Nara (s.Foto) abgebildet, um klar zu machen, in welch grandioser Tradition diese stark von der alten 4-saitigen Norm abweichende Neuerung des 5-saitigen chikuzen biwa einzuordnen ist.
Das Experiment mit dem 5-saitigen chikuzen biwa, das heute der Standard ist, führte Kyokuō I. mit seinem zweiten biwa spielenden Sohn durch, mit dem er sich künstlerisch gut verstand. (Viele Reisen zu Konzerten unternahm er mit ihm und nicht mit dessen älterem Bruder, der auch biwa spielte). Als Kyokuō I. 1919 starb, war es von der gesellschaftlichen Norm her selbstverständlich, dass der ältere Bruder die Nachfolge der Schulleitung übernahm. Dem älteren Sohn war in erster Linie Modernisierung wichtig (er kreierte eine neue biwa-Tabulatur, die stark von westlicher Notation beeinflusst war) - im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder, der ein Traditionalist war. Die künstlerische Disziplin des zweiten Sohnes veranlasste den Vater, ihn zu bevorzugen. Und so äußerte er in seinen letzten Jahren den Wunsch, dass sein zweiter Sohn eine eigene Schule gründen sollte, in der das künstlerische Erbe im Sinne des Vaters und auf dem künstlerisch hohen Niveau des Vaters weitervermittelt werden sollte. Der ältere Sohn übernahm also die offizielle Führung der Schule, nahm den Namen TACHIBANA Kyokuō II. an und wurde das Haupt (iemoto) der Asahikai (Asahi-Gesellschaft). Der jüngere Bruder nahm den Namen TACHIBANA Kyokusō I. (1892-1971) an und wurde das Haupt (iemoto) der Tachibanakai (Tachibana-Gesellschaft).
Asahikai und Tachibanakai sind bis heute die beiden wichtigsten Gesellschaften für chikuzen biwa. Im frühen 20. Jahrhundert jedoch, als biwa extrem in Mode war, erschienen zahlreiche andere Schulen und Gesellschaften, die hier nicht diskutiert werden können.
TACHIBANA Kyokusō I. galt wie erwähnt als konservativer und sehr anspruchsvoller Musiker. Er wirkte zunächst vorwiegend in Tokyo, denn nur von hier aus konnte ein biwa-Genre nationale Verbreitung erreichen. Doch 1923 ereignete sich das große Erdbeben, und das führte dazu, dass TACHIBANA Kyokusō I. seinen Wirkungsort für eine Weile nach Osaka verlegte und hier seine Schule von biwa-Spielern pflegte und unterrichtete. Damit bot sich für die in Osaka lebende 17-jährige YAMAZAKI Kyokusui (1906-2006) die große Chance, direkt vom Schuloberhaupt unterrichtet zu werden. Das war ungewöhnlich, da diese junge biwa-Spielerin noch einen Rang hatte, der vier Ränge unter dem „Lehrer-Rang“ (kyōju) war, welcher sie zu diesem Studium berechtigt hätte. Warum wurde sie so bevorzugt? TACHIBANA Kyokusō I. erkannte schnell das große Talent und war sich sicher, dass das Mädchen eine große biwa-Spielerin werden würde. Frau YAMAZAKI erinnerte sich an peinvolle Unterrichtsstunden, in der auch körperliche Attacken mit dem Plektrum nicht selten waren. Doch sie akzeptierte die überaus harte Schulung und wurde immer mehr zur Lieblingsschülerin des Meisters.
In späten Jahren komponierte Kyokusō I. sogar das virtuose Stück Ibaraki direkt für sie, indem er sich an den spezifisch stimmlichen Qualitäten von YAMAZAKI Kyokusui orientierte.
Seine Ansprüche auch an sich selber waren so hoch, dass er keine Aufnahmen seines Spiels und Gesangs zuließ. Es existieren nur wenige, unter strengem Verschluss gehaltene private Aufnahmen seines Instrumentalspiels, und so haben heute die Tachibanakai-Studenten keine Ahnung, wie Spiel und Gesang des Schulgründers waren. Kyokusō I. brachte aber YAMAZAKI Kyokusui mit aller Intensität bei, wie nach seinem Ideal die Kunst des chikuzen biwa beschaffen sein müsste Sie war eine treu ergebene Schülerin und hat 1967 als künstlerisches Oberhaupt der Tachibanakai-Schule (sōhan) das Erbe nach ihren besten Möglichkeiten weitergetragen.
Ihr Bestreben nach Authentizität des biwa-Stils ihres Meisters fand eine starke Basis in der Notation der Stücke. Diese unterschied sich schon bald in der Exaktheit, Genauigkeit und Differenziertheit grundlegend von den Vertonungen in der Asahikai, wo viele Details dem Spieler und Sänger freigestellt werden. In der Tachibanakai gibt es gleichsam einen „Urtext“, und die unbedingt eingeforderte Treue zu diesem Text muss, nach Ansicht des Autors, mit ein Grund sein, dass es in dieser Schule bereits zwei „Lebende Nationalschätze“ gibt. Denn in traditionellen Künsten in Japan, wo auch die orale Tradition wichtig ist, kann ein klar und eindeutig profilierter Stil eine gewisse Gewähr bieten, dass die Kunst nicht auf Abwege gerät, sondern in der Ausübung der Spieler und Sänger über Generationen an Tiefe gewinnt.
3. Gegenwärtige Situation in der chikuzen biwa Tachibanakai (Tachibana-Gesellschaft)
Der offizielle Schulvorsteher (iemoto) TACHIBANA Kyokusō II., der leibliche Sohn von Kyokusō I., nimmt heute fast keine offiziellen Funktionen mehr wahr; sie werden alle von seiner Tochter TACHIBANA Kyokutei (jiki iemoto, dem nächstfolgenden Oberhaupt der Schule) übernommen. Weder TACHIBANA Kyokusō II. noch seine Tochter sind professionelle biwa-Spieler. Kyokusō II. stützte sich deshalb in Musikbelangen vollkommen auf Frau YAMAZAKI Kyokusui und erlaubte ihr, den Titel sōhan, „Übergeordneter Meister“, zu tragen. Seit ihrem Tode ist der sōhan-Posten vakant, doch in der Praxis übernimmt heute weitgehend die ausgewiesenste Schülerin von Frau YAMAZAKI, Frau OKUMURA Kyokusui in Osaka, die Führung. Die Tatsache, dass auch sie ein “Lebender Nationalschatz“ geworden ist, erübrigt die Verleihung des Titels sōhan, da Frau OKUMURA das gesamte Repertoire bei Frau YAMAZAKI einstudiert hat und fähig ist wie keine andere Spielerin, es auf professionellem Niveau weiterzuvermitteln. Sie hat in Japan als Meisterin zurzeit die größte eigene Schülerschaft.
Ende Dezember 2020 zählte die Tachibana-Gesellschaft landesweit 258 Mitglieder. Der größte Teil von ihnen lebt in der Kantō- und Kansai-Region und in Kyushu - hauptsächlich in Fukuoka und Kagoshima. Frau OKUMURA Kyokusui betreut die Schüler von Osaka, Kyoto, Nara, Shiga und Hiroshima. Nur wenige Mitglieder wohnen in Tokyo, Nagoya und anderen Orten.
Die Schule hat, wie das in den traditionellen Künsten Japans Sitte ist, ein Rang-System. Die obersten Ränge sōhan und sōshihan sind derzeit vakant. Der heute oberste besetzte Rang ist daishihan („Großmeister“), den Frau OKUMURA (und noch eine andere Spielerin) inne haben; danach gibt es vier shūshihan („Hervorragende Meister“) - unter denen einer der Autor ist -, und darunter kommen die shihan, was man normalerweise als „Meister“ übersetzt. Unterhalb des shihan-Ranges, der vergeben wird, wenn ein Spieler ein gewisses spieltechnisches, sängerisches und generell künstlerisches Niveau hat, ein ansehnliches Repertoire vorweisen kann und eine Prüfung bestanden hat, gibt es noch zehn weitere Ränge, die ein Lernender in Abständen von ein bis drei Jahren, je nach Studium und Begabung, erwerben kann.
Wie in allen traditionellen Künsten und Disziplinen in Japan, ist der Erwerb eines Ranges mit Kosten verbunden. Bei einer Rangzuerkennung wird dem Spieler ein Zertifikat des Schuloberhaupts iemoto übergeben. Weitere Kosten sind der Jahresbeitrag an die Gesellschaft, wofür die Mitglieder auch eine vierteljährlich erscheinende Vereins-Zeitung erhalten. Und sie bezahlen ein Monatsgeld (gessha) für - in der Regel - drei Lektionen pro Monat bei ihrem Lehrer. Da es keine Instrumentengeschäfte gibt, die biwa in der Auslage haben, werden Instrumente und Plektren in der Regel vom Lehrer oder von einem der wenigen noch existierenden biwa-Bauer erworben (mit Internet-Auktionen hat sich die Situation allerdings etwas verändert). Die Noten mit den Gesangstexten und die Spielbücher für die Zwischenspiele können nur von einem studierenden Mitglied gekauft werden. Im Prinzip sind Fotokopien davon verboten. In dieser Publikation durften deshalb auch keine kompletten Originale der Gesangstexte, die in 15 Heften mit fünf bis zu sieben Balladentexten gedruckt vorliegen, präsentiert werden.
Ein traditionelles Genre wie chikuzen biwa, versteht sich als eine Form von Erziehungsdisziplin, als eine Schulung, um Körper, Geist, Wissen und Bewusstsein zu formen. Das Ziel ist nicht, ein Künstler zu werden, der von Konzertauftritten lebt. Ein guter Spieler wird ein Lehrer und nicht ein Bühnenstar. Wenn er letzteres trotzdem wird, wird er dafür bewundert, aber das ändert am Grundkonzept der Schulung und Ausübung nichts. Konzertveranstaltungen der Mitglieder sind eigentlich Vortragsübungen, die mehrere Stunden dauern können, da bis über 20 Spielende eine auf 15 Minuten gekürzte Version ihres einstudierten Stücks vortragen. Zu Beginn einer Veranstaltung spielen die Anfänger, dann die Fortgeschrittenen, und das Fähigkeits-Crescendo endet mit der Darbietung des Meisters am Schluss des Konzerts.
Die größte und wichtigste Veranstaltung ist die Jahresversammlung, die in einem gewissen Turnus im Sommer in verschiedenen Städten des Landes stattfindet. Da es hier oft sehr viele Mitglieder gibt, die teilnehmen möchten, organisiert man auch Gruppendarbietungen von mehreren Spielern und Sängern, damit alle innerhalb eines Tages auftreten können.
Allen diesen Veranstaltungen ist gemein, dass der Teilnehmer selber für seinen Auftritt bezahlt, und dass keine Eintrittskarten verkauft werden, denn es geht immer einerseits um eine Selbstdarstellung der Tachibana-Schule und andererseits um einen Studiumsnachweis.
Früher waren die Jahresversammlungen auch große gesellschaftliche Anlässe. Auf die Konzertveranstaltung folgte am nächsten Tag die Durchführung eines Tourismus-Programms. In letzter Zeit wird nur noch ein Bankett nach dem Konzert organisiert, denn die meisten Spieler wollen noch am Abend des Konzerttags nach Hause zurückkehren.
Vor dem Zweiten Weltkrieg, als Kyokusō I. die Tachibanakai leitete, gab es ungefähr 8300 Mitglieder, einschließlich derer, die im Ausland lebten. Dies änderte sich nach dem Krieg. Mit der Niederlage Japans schwand das Interesse der Öffentlichkeit an Kriegsgeschichten, und das Instrument und seine Musik wurden von vielen nur noch als Rentner-Hobby angesehen. Dieses Bild hat sich in den letzten Jahrzehnten entschieden verbessert. Heute ist chikuzen biwa ein designiertes „Wichtiges Immaterielles Kulturgut Japans“ (Jūyō mukei bunkazai), und die jungen Japaner, die sich für Musik und traditionelle Künste interessieren, haben keine Widerstände mehr, sich diesem Erzähl-Genre zu öffnen, obwohl der Schwerpunkt auf Schlachten und Helden liegt. Seit ein paar Jahren wurde es in Osaka sogar möglich, eine öffentliche Konzert-Vortragsübung zu organisieren, bei der das obere Alterslimit 26 Jahre ist. Das ist ein guter Trend, und alle Mitglieder der Tachibana-Gesellschaft und auch anderer biwa-Schulen und -Vereine hoffen, er sei ein Zeichen für eine lichte Zukunft der biwa-Kunst.
Japanische Referenz-Quellen
岸辺成雄他編(1981~1983)『音楽大事典』1~6巻、平凡社
平野健次、上参郷祐康、蒲生郷昭監修(1989)『日本音楽大事典』平凡社
国立劇場編、小島美子監修(2008)『日本の伝統芸能講座 音楽』淡交社
武蔵野音楽大学楽器博物館編(2003、2011改訂)「武蔵野音楽大学楽器博物館研究報告書 Ⅸ」