Prolog

Der Plan, eine solche Studie zu verfassen, hatte mehrere Beweggründe. Zunächst ist es eine Tatsache, dass selbst auf japanisch nur wenige verlässliche Studien zur Kultur des biwa vorliegen. Es gibt keine auch nur annähernd umfassende Monographie für dieses Instrument, das über tausend Jahre lang in verschiedenen Formen und Stilen die japanische Musikkultur bereichert hat.
Die vorliegende Studie kann diesen Mangel nicht beseitigen und stellt auch nicht diesen Anspruch, denn sie ist aus praktischen Überlegungen heraus entstanden. 1983 kam ich als Musikwissenschaftler nach Japan, um mich in die Kultur des biwa zu vertiefen – speziell in jene des chikuzen biwa, einem Genre, in dem seither zwei Musiker „Lebende Nationalschätze“ geworden sind. Ich realisierte bald, dass in der Musikforschung zu vieles fehlte, um sich ein kohärentes Bild dieser Lautentradition verschaffen zu können. Es schien mir deshalb das Sinnvollste, bei der Basis anzusetzen, d.h. sich ganz direkt, praktisch mit dieser Musik auseinanderzusetzen und zu versuchen, ein biwa-Spieler zu werden. Mir schien, dass man diese Kunst in der Geschichte, in der Praxis und in der Rezeption nur dann verstehen kann, wenn man mit den Texten, mit dem Instrument, mit der Vermittlung vom Meister zum Schüler und mit der Aufführungspraxis in der heutigen japanischen Gesellschaft etc. vertraut wird. Dann wird eine Sicht dieser Balladenkultur von innen heraus möglich und kann als Basis für umfassendere Studien in diesem Bereich der japanischen Musikgeschichte dienen.

Ein wichtiges Fundament meines praktischen Studiums war zunächst einmal das Verstehen der Balladentexte. Ohne zu wissen, was man singt oder rezitiert, ist die Auseinandersetzung mit dieser Kunst sinnlos. Doch die Texte sind oft sprachlich weit vom modernen japanischen Sprachgebrauch entfernt; sie sind auch für Japaner oft schwerverständlich. Deshalb setzte für mich unumgänglich schon bald ein intensives Studium der Balladentexte ein, dessen Ergebnis der Kern dieser Publikation ist.
Mit fortgeschrittenem Niveau begann ich in Japan aufzutreten und später auch im Ausland zu konzertieren. Da zeigte es sich, dass das Übersetzen der Texte nicht nur für mich als Ausübenden eine Notwendigkeit war, sondern auch für die Vermittlung dieser Kunst außerhalb Japans. Ein der japanischen Sprache nicht kundiges Publikum ist dankbar, zu wissen, was gesungen wird, und seine Begeisterung über diese doch musikalisch so fremd anmutende Balladen-Rezitation wird durch eine leicht fassliche Übersetzung entschieden gesteigert.

Diese Studie mit Übersetzungen und Einführungen in 22 Balladen ist also ein wichtiges Medium, um eine weitere japanische Musikgattung international fassbar zu machen. Doch die sprachliche, historische und musikanalytische Aufarbeitung ist auch für biwa-Schüler der Tachibanakai-Schule bestimmt von Nutzen, denn ein japanischer Lehrer unterrichtet nur die praktischen Aspekte des biwa-Spiels, geht aber im Prinzip nie auf Hintergründe ein. Deshalb begrüßte auch die Tochter des Schuloberhaupts der Tachibana-Gesellschaft (auch Tachibanakai genannt), Frau TACHIBANA Kyokutei, die vorliegende Studie sehr.
Das ganze Repertoire der Tachibanakai umfasst 84 Stücke; nur ein Viertel davon wird hier vorgestellt. Was waren die Auswahlkriterien? Zunächst einmal habe ich mich nur auf Stücke konzentriert, die ich während gut 38 Jahren selber einstudiert hatte. Ein weiteres Auswahlkriterium war, in welchem Maße eine Ballade als Studienobjekt bei allen Spielern heutzutage zum Repertoire gehört. (Einige der 84 Stücke werden kaum mehr gespielt.) Doch nicht alle noch aktuellen Stücke konnten Eingang in diese Studie finden. Es war mir wichtig, inhaltlich und stilistisch eine möglichst große Breite anzuvisieren. Adachigahara ist inhaltlich ca. im 10.Jahrhundert anzusiedeln, während die letzte, Saigō Takamori, eine heroische Geschichte aus dem späten 19. Jahrhundert erzählt. Mit allen wichtigen dazwischen liegenden Epochen ist mindestens eine Ballade inhaltlich verbunden. Denn das Ziel der Schöpfer des chikuzen biwa war nicht nur ein Unterhaltungs-Genre zu schaffen, sondern sollte auch erzieherisch die Zeitgenossen im frühen 20. Jahrhundert an bewundernswerte Protagonisten und ihre Ideale in der tausendjährigen Geschichte Japans erinnern - in einer Zeit, in der alles, was aus dem Westen kam, mehr oder weniger vorbehaltlos bewundert und verehrt wurde und japanische Werte einen schwierigen Stand hatten.

In meiner Auswahl war der historische Gesichtspunkt der Balladeninhalte wichtig, doch auch ein stilistischer sollte nicht zu kurz kommen. Im Prinzip sind alle Balladen gleich gestaltet – der überschaubare Bausatz von instrumentalen Zwischenspielen und vokalen Melodieformeln bleibt gleich. Doch es gibt eindeutig betont ariose Stücke, wie Miyako ochi, oder betont narrative Stücke wie Ataka. Im Prinzip stammen alle Kompositionen vom Gründungs-Schuloberhaupt TACHIBANA Kyokusō, doch einige Stücke wurden von meiner Lehrerin YAMAZAKI Kyokusui, dem künstlerischen Oberhaupt der Schule (sōhan) komponiert. Ihre Stücke haben ein eigenes Profil, denn diese Musikerin war eine hervorragende Instrumentalistin und legte somit oft Gewicht auf die virtuose Seite des Instruments oder erfand gar neue Spieltechniken. Auch im vokalen Bereich gibt es in ihren Balladen Elemente, die sich stilistisch von allen andern Stücken unterscheiden.
Obwohl bei einer Auswahl von 22 Stücken viele schöne und wichtige Balladen nicht in Betracht gezogen wurden, habe ich doch von einer Geschichte zwei Fassungen gewählt, die die Pole „narratives Stück - arioses Stück“ ganz klar erkennbar machen. Es handelt sich um die Stücke Dannoura und Dannoura Hikyoku. Ich hielt diese Auswahl auch deshalb für sinnvoll, weil die ariose Version Dannoura hikyoku von YAMAZAKI Kyokusui deutlich macht, wie Japaner heute über diese letzte große Schlacht zwischen den HEIKE und den GENJI denken und fühlen; jener Schlacht mit der die glanzvolle höfische Epoche der Heianzeit (794-1185) endet.
Insgesamt liegt in der Auswahl der Balladen ein Schwerpunkt auf der Thematik der Schlachten zwischen den HEIKE und den GENJI, die im Heike monogatari geschildert werden. Dieses Epos wurde über Jahrhunderte hin zur Begleitung des heike biwa vorgetragen, das spieltechnisch und stilistisch so weit vom chikuzen biwa entfernt ist wie ein Spinett von einem modernen Klavier. Doch es ist die buddhistisch inspirierte Geisteshaltung von mujō („Leiden an der Nichtigkeit dieser Welt“) des Heike monogatari, die alle später entstandenen biwa-Genres beeinflusst hat. Und im Bewusstsein der japanischen Bevölkerung ist immer noch die Rezitation von Geschichten aus dem Heike monogatari die eigentliche biwa-Kunst.

Silvain Kyokusai GUIGNARD

1951 in Aarau (Schweiz) geboren. Klavierstudium am Konservatorium Zürich bei Hans ANDREAE. 1975 Klavierlehrdiplom. Studium der Musikwissenschaft (Prof. Kurt von FISCHER), Japanologie und Musikethnologie an der Universität Zürich. 1983 Promotion mit einer Studie über CHOPINs Walzer. Stipendium des japanischen Erziehungsministeriums (Monbushō) für biwa-Studien. Eintritt in den Postgraduate Course der Osaka Universität. Beginn des praktischen biwa-Studiums bei Frau YAMAZAKI Kyokusui. 1988-99 Lehrtätigkeit an der Osaka Gakuin University. 1991 Gastvorlesung an der Duke University in North Carolina. Concert-lectures am Metropolitan Museum in New York, am Cleveland Museum of Art und an der University of Fine Arts in Los Angeles.1993 Kulturpreis der Stadt Takatsuki.
Beginn der Reihe „Biwa Plus“ (1994-2013, Produktion von 20 Konzerten), gefolgt von der Serie „Biwa no shirabe ni…“ (2015-2019, Produktion von zehn Rezitals), gesponsert von Frau TAKAKUSA Wako (Bright One Co., Ltd).
1996 Meistertitel shihan für biwa-Rezitation und Spezialpreis am 33. biwa-Wettbewerb der Japanischen Biwagesellschaft in Tokyo. 1999-2003 Professor für Musikwissenschaft am Women’s College der Dōshisha Universität Kyoto. 2004-2022 Professor für Musikwissenschaft am International Department der Osaka Gakuin University. Lehraufträge für japanische Kunst- und Kulturgeschichte. Zahlreiche Konzerte teilweise mit der Unterstützung der Japan Foundation in Deutschland, in der Schweiz, Australien und Amerika. Ab 2006 biwa-Studien bei Frau OKUMURA Kyokusui. Seit 2013 Mitglied der Okumura Kyokusaikai. 2014 Titel shūshihan („Exzellenter Meister“). 2015 Kulturpreis der Stadt Otsu, Shiga Präfektur.
Zahlreiche Publikationen in Deutsch, Englisch und Japanisch zur Kultur der biwa-Musik und zu CHOPIN.

Folgenden Personen bin ich zu großem Dank verpflichtet

  • MAYEDA Akio und YAMAGUTI Osamu

    Mein Dank richtet sich zunächst an den Mentor aus meiner Studienzeit in Zürich, Prof. Dr. Akio MAYEDA. In seinen Vorlesungen und Seminaren kam ich während mehrerer Jahre in Berührung mit japanischer Musik, und er beriet mich, als Spezialstudium die Lautenkultur des biwa zu wählen. Nach meiner Promotion über CHOPINs Walzer ebnete er mir den Weg, mit einem Stipendium nach Japan zu gehen und an der Osaka Universität unter die fachliche Obhut von Prof. YAMAGUTI Osamu zu kommen. Prof. YAMAGUTI betreute zu Beginn intensiv meine Forschung und führte mich bei Frau YAMAZAKI Kyokusui ein, bei der ich 23 Jahre lang chikuzen biwa studierte. Dafür bin ich ihm zeitlebens dankbar.

  • YAMAZAKI Kyokusui

    Frau YAMAZAKI, die 1996 zum ersten „Lebenden Nationalschatz“ in der biwa-Welt ernannt wurde, war bereits 78 Jahre alt, als ich bei ihr als biwa-Schüler eingeführt wurde. Ich war der erste Ausländer, den sie unterrichtete, und da sie kein Englisch sprach und keine westliche Musik-Ausbildung genossen hatte (sie konnte keine Noten lesen) wusste sie nicht, ob sie mir etwas beibringen könne. Biwa unterrichten war (in meinem Fall) für sie dasselbe Abenteuer wie für mich biwa lernen. Ich bin ihr aber zutiefst dankbar, dass sie mich schon bald vollkommen akzeptierte und mir nie das Gefühl gab, dass ich als Ausländer diese Kunst nicht verstehen könne. Sie behandelte mich durchwegs als japanischen Schüler, und das bedeutete auch, dass sie dem Zeitverständnis in der traditionellen Schulung einer japanischen Kunst gehorchte. An einen „Intensivkurs“ von ein, zwei Jahren war nie ernsthaft zu denken. Sie vermittelte mir die Erfahrung, dass es viel Zeit braucht, um eine Kunst zu lernen und zu erfassen, dass der Mensch mit der Kunst, die er lernt, wachsen, mit ihr verwachsen muss. Das braucht sehr viel Geduld, und die hat sie für mich 23 Jahre lang, bis zu ihrem Tod kurz nach ihrem 100. Geburtstag, aufgebracht. Ohne die starke künstlerische Führung dieser Frau, wäre mein Forschungsprojekt schon nach vier Jahren zu einem Abschluss gelangt.

  • OKUMURA Kyokusui

    Frau OKUMURA Kyokusui war die herausragendste Schülerin von Frau YAMAZAKI und hat nach deren Tod 2006 die hinterlassene Schülerschaft der Meisterin übernommen. Ich konnte bei Frau OKUMURA weiter studieren und zunächst mein Repertoire festigen. Sie war immer eine unnachgiebige Lehrerin, aber das ist das Beste, was einem Schüler passieren kann. Ich habe mit der Zeit bei Frau OKUMURA auch neue Stücke einstudiert und dabei stets ihr unbeugsames Festhalten an der Reinheit des Tachibanakai-Stils bewundert. Frau OKUMURA wurde 2015 ebenfalls ein „Lebender Nationalschatz“, was ihre Verdienste für die Kunst des chikuzen biwa nur unterstreicht.

  • TACHIBANA Kyokutei

    Frau TACHIBANA Kyokutei, das zukünftige Oberhaupt der Chikuzen Biwa Tachibanakai (jikiiemoto),
    kommentierte die Darstellung der Fakten in meinen einführenden Texten sehr sorgfältig. Sie steuerte wertvolle Informationen zur Geschichte des chikuzen biwa und vor allem zur Geschichte der Musikerfamilie der TACHIBANA im 20.Jahrhundert bei, womit diverse Artikel in Nachschlagewerken zu diesem Thema berichtigt werden können.

  • KOMODA Haruko

    Frau KOMODA Haruko, Professorin an der Musashino Academia Musicae, half mir die einführenden englischen und japanischen Texte auf ein aktuelles wissenschaftlichen Niveau zu bringen. Von ihr, als der unbestreitbar kundigsten japanischen Kennerin der biwa-Geschichte, so intensiv und reichhaltig beraten zu werden, war für mich ein Glücksfall.

  • KANDA Yasuko

    Als ich mit meinem Stipendium des Kulturministeriums 1983 nach Osaka kam, war Frau KANDA Yasuko zunächst meine private Japanisch-Lehrerin. Erst Jahre später wollte es der Zufall, dass Frau KANDA Professorin für Japanisch an der Osaka Gakuin University wurde, wo auch ich unterrichtete. Frau KANDA ist nicht nur eine große Musikliebhaberin, sondern auch eine hervorragende Violinspielerin. Als ich begann, biwa-Konzerte zu geben, war Frau KANDA die Ansprechperson für die Übersetzungs-Probleme der Balladentexte. Sie machte mich mit Prof. NOGUCHI bekannt und hatte die Idee, mit seiner Hilfe die biwa-Texte gründlich aufzuarbeiten. Sie war somit ein wichtiger Anreger für dieses Projekt, und es versteht sich von selbst, dass sie Mitglied unseres Teams wurde. Im Laufe der Zeit kam von ihr als Musikerin dann auch die Idee, zu jeder Ballade einen Musikkommentar zu verfassen, deren japanische Übersetzung sie übernommen hat. Mit ihren hervorragenden Englischkenntnissen war sie bei der Abfassung der englischen Version zudem immer wieder hilfreich, wenn es darum ging, unklare Übersetzungsdetails zu berichtigen.

  • NOGUCHI Takashi

    Prof. NOGUCHI Takashi war in unserem Team an der Osaka Gakuin University die zentrale Person, wenn es um das tiefere Verständnis der Balladentexte ging. Er ist Spezialist für klassisches Japanisch und verfügt über ein immenses historisches Wissen. Herr NOGUCHI scheute keine Mühe, irgendein Detail zu klären und hatte unsere ungeteilte Bewunderung für seine integre wissenschaftliche Art, Editions-Probleme anzugehen. Durch ihn habe ich ungeahnte Einblicke in die Geschichten der Balladen gewonnen und hatte das Vertrauen, dass der Umgang mit den japanischen Texten auf modernstem philologischem Verständnis beruht.

  • Philip FLAVIN

    Prof. Dr. Philip FLAVIN war zuständig für die englische Überarbeitung aller Texte dieser Studie. Da er selber hervorragend Japanisch spricht und liest, gab es beim Übersetzen nie Verständigungsprobleme. Von großer Hilfe war auch sein Hintergrund als ausübender Musiker. Er ist ein professioneller shamisen-Spieler und war für kurze Zeit auch biwa-Schüler von Frau YAMAZAKI. Philip FLAVIN ist zwar Musikwissenschaftler, doch hat er auch ein großes Wissen über japanische Literatur und Kunst. Sein exquisites Stilgefühl fürs Englische hat er gewinnbringend für dieses sprachlich anspruchsvolle Projekt eingesetzt.

  • Roger WALCH

    Der Filmemacher Herr Roger WALCH war verantwortlich für die Tonaufnahmen der Balladen. Da er selber Jazzpianist ist und schon viele professionelle Aufnahmen gemacht hat in seiner Karriere, bin ich ihm dankbar für das Verständnis unserer bescheidenen Aufnahmebedingungen. Alle Balladen wurden über fünf Jahre hin in unserem Wohnzimmer in Ōtsu aufgenommen. Obwohl diese Location natürlich alles andere als Studio-Qualität hat, vermochte er mit der Wahl von Mikrophonen eine Aufnahme-Qualität zu erreichen, die weit über ein Amateur-Niveau hinausreicht. Da Herr WALCH auch fließend Japanisch spricht, gab es kaum je Probleme beim Schneiden der Takes. Ich habe es seiner Sensibilität fürs Klangliche zu verdanken, dass die Aufnahmen das Beste zeigen, was ich als Sänger und biwa-Spieler zu leisten imstande bin.

  • Annemarie GUIGNARD

    Ohne das Verständnis und die Hilfe meiner Frau hätte dieses Projekt überhaupt nicht realisiert werden können.

Grußworte

  • Zur Publikation der chikuzen biwa Studie von
    GUIGNARD Kyokusai und seinem Team

    Hōmeiin TACHIBANA Kyokutei

    Ich traf Herrn GUIGNARD Kyokusai zum ersten Mal, nachdem ich von YAMAZAKI Kyokusui, der künstlerischen Leiterin (sōhan) der Japan Tachibana-Gesellschaft, erfahren hatte, dass sie damit begonnen hatte, einem Studenten aus der Schweiz biwa auf Japanisch zu unterrichten. Angesichts der geringen Anzahl von biwa-Spielern in Japan war ich erfreut zu hören, dass sich jemand aus Übersee für die traditionelle japanische Kunst des biwa interessierte, aber ehrlich gesagt, ging ich davon aus, dass sein Interesse hauptsächlich akademisch war und hatte daher keine Erwartungen, dass er im praktischen Studium einen langen Atem haben werde. Seitdem hatte ich jedoch viele Gelegenheiten, seine Auftritte in biwa-Konzerten zu hören und war froh zu sehen, wie sich sowohl seine instrumentalen Fähigkeiten wie auch sein Japanisch allmählich verbesserten.
    Seine Titel - der Name der Schulzugehörigkeit Kyokusai und der später erworbene Titel Hōzuiin - wurden von seinem Herkunftsland Schweiz (auf Japanisch Suisu瑞西) abgeleitet. TACHIBANA Kyokusō II. (iemoto und Vorsteher der Tachibana Gesellschaft) schuf für ihn den Titel Hōzuiin法瑞院und Kyokusai (旭西) (Das Zeichen sui von Suisu kann auch zui, und das Zeichen su von Suisu kann auch sai gelesen werden.)
    „Japanische Geschichten-Rezitation zur Begleitung der Laute biwa “ ist der erste konzise Überblick über chikuzen biwa. Es gibt ein paar Bücher und Artikel über das Instrument, aber alle enthalten Fehlinterpretationen und Aussagen, die nicht auf Tatsachen beruhen. Daher schätzte ich als derzeitige Stellvertretende Vorsitzende zusammen mit dem Vorsitzenden der Tachibanakai TACHIBANA Kyokusō II (iemoto) die zeitaufwendige Recherche des Autorenteams von GUIGNARD Kyokusai sehr und unterstützte es bei dieser Veröffentlichung einer akkuraten Geschichte und Theorie des chikuzen biwa.
    Wir als Japaner denken selten über Bedeutungen, Definitionen und Konzepte von Wörtern in unserem täglichen Leben nach. Wie im Englischen gibt es aber auch im Japanischen viele mehrdeutige Wörter. Prof. GUIGNARDs detaillierte Analyse von biwa-Texten resultierte letztlich in einer einfühlsamen Interpretation, die er in seinen kreativen Wiedergaben auf der Bühne verwirklicht.
    In den Anfangsjahren des chikuzen biwa, d.h. zu Zeiten meines Urgroßvaters (dem Gründer der Tachibana-Gesellschaft), gab es weder ein Notenbuch der instrumentalen Zwischenspiele (danpōbon), noch war der Vokalpart der Balladen schriftlich fixiert - die Vermittlung der Musik erfolgte rein mündlich. Als mein Großvater, TACHIBANA Kyokusō I. (erster iemoto der Tachibanakai) 19 Jahre alt war, schlug er seinem Vater TACHIBANA Kyokuō I. vor, eine Standard-Version für die biwa-Musik zu schaffen. Schließlich wurde dann mit Zustimmung des Gründers das bis heute autoritative biwa-Notenbuch (danpōbon) „Das Tachibana Kyokusō Spielbuch“ gedruckt. Diese Veröffentlichung der instrumentalen Zwischenspiele hat zusammen mit der Fixierung des Vokalparts der Balladentexte das Studium und die Lehre dieser Kunst sehr erleichtert und in vieler Hinsicht gefördert.
    Seit der Gründung der Japan Tachibanakai hatte TACHIBANA Kyokusō über 400 Werke komponiert. Er bündelte diese Werke in thematisch zusammenhängenden „Musikbüchern“ und notierte sorgfältig für jedes Stück alle Aspekte der Aufführung - für den Gesang und für das Instrument. Heute sind die Tonhöhe, die Mikromelodien an den Zeilenenden und die instrumentalen Zwischenspiele absolut eindeutig fixiert. Diese sorgfältig notierten musikalischen Vertonungen ermöglichen es dem Interpreten, eine klare Vorstellung von der Intention des Komponisten zu entwickeln und so eine eigene Interpretation des Stücks anzustreben.
    Die sorgfältig gestalteten Partituren ermöglichen es dem Interpreten, eine ausdrucksstarke Wiedergabe eines Stückes zu erreichen, die den Hörer berührt, indem sie die Emotionen der Charaktere der Ballade und der Szenen vermittelt. Biwa ist ein narratives Genre, ein katarimono („Geschichten-Erzählen“), d.h. man soll nicht nur schön singen oder Texte korrekt deklamieren. Eine biwa-Erzählung muss mit einer Tiefendimension gestaltet werden, die sich aus der Funktion sowohl der Zwischenspiele (als Kommentar zum gesungenen Text) als auch durch die Wahl von Stimmlagen, Phrasierung, Artikulation (maai) und Klangfarbe ergibt. Eine gute und ausdrucksstarke japanische Erzählung wird nur durch die gelungene Synthese von Gesang, Spiel und tiefem Textverständnis erreicht.
    In dieser Studie haben sich GUIGNARD Kyokusai und sein Team dem Genre chikuzen biwa aus verschiedenen Richtungen genähert. GUIGNARD’s langjähriges Studium der Kunst und seine Ausbildung als Akademiker ermöglichten ihm einzigartige Einblicke, die üblicherweise einem nicht-Japaner nicht zu Gebote stehen, und so hat er eine wertvolle „Dritte Sichtweise“ entwickelt.
    Ich glaube, dass diese Studie – mit Hilfe eines exzellenten Herausgeberteams – der Höhepunkt von Professor GUIGNARDs 38 Jahren Forschung und musikalischem Engagement mit dem biwa ist. Ich stelle mir auch vor, dass diese Leistung viel zum Wachstum des Interesses an den Erzählkünsten Japans beitragen wird. Für diejenigen, die zum ersten Mal biwa hören, wird dieser Text zweifellos ein tieferes Verständnis dieser japanischen Laute und ihrer Geschichten fördern. Es wird auch diejenigen, die diese Kunst bisher praktisch studiert haben, herausfordern, ihr eigenes Bild dieser Darstellenden Kunst noch einmal zu überdenken und zu reflektieren.

  • Hōwain OKUMURA Kyokusui

    Chikuzen Biwa Tachibana Schule Japan
    Tachibana Gesellschaft
    Geschäftsführerin / Groß-Meisterin der Gesellschaft
    “Lebender Nationalschatz”

    Wir biwa-Spieler reagieren sehr empfindlich auf "Tonhöhe", "Rhythmus" und "Klangfarbe" usw., aber weil Japanisch unsere eigene Sprache ist, übersehen wir oft Dinge, ohne uns dabei unwohl zu fühlen. Wenn wir uns jetzt der Veröffentlichung von GUIGNARD Kyokusai zuwenden, haben wir die Gelegenheit, erneut über die Balladen nachzudenken. Obwohl GUIGNARD ein Ausländer ist, denke ich, dass seine Forschung für uns japanische biwa-Spieler ebenfalls wertvolle Anregungen bieten wird.

  • Haruko KOMODA

    Professor an der Musashino Academia Musicae

    Ich freue mich sehr, dass Herr GUIGNARD seine Veröffentlichung über biwa abgeschlossen hat. Dieses Instrument wurde bereits vor der Nara-Zeit (710-794) in Japan eingeführt, und seine Wurzeln finden sich in Westasien. Es ist ein Instrument, das eine große historische Tiefe und geografische Ausdehnung aufweist. Chikuzen biwa, mit dem sich Herr GUIGNARD in dieser Studie befasst, erfreute sich in Japan vom Ende des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts - zusammen mit satsuma biwa - einer landesweiten Beliebtheit. Während dieser Zeit wurde westliche Musik in Japan eingeführt, Kinder lernten in der Schule Lieder im westlichen Stil singen, und berühmte japanische Komponisten wie TAKI Rentarō und YAMADA Kōsaku schrieben Stücke im westlichen Musikstil bisweilen sogar in großer Besetzung. In einer solchen Zeit waren es jedoch das satsuma biwa und das chikuzen biwa, die neue Welten auf der Grundlage traditioneller japanischer Musik eröffnen konnten, ohne von westlicher Musik beeinflusst zu werden.
    Da die Geschichte dieser biwa-Musik neu ist, wurde sie noch nicht als "traditionelle Musik" kategorisiert, und daher haben nur wenige japanische Musik-Historiker mit ihrer Erforschung begonnen. Es sind bisher hauptsächlich ausländische Wissenschaftler, die eine kostbare Substanz japanischer Musik in Bereichen wie biwa-Musik erkannten. GUIGNARD ist einer von ihnen. Er ließ sich in Japan nieder, lernte das Spiel und den Gesang von chikuzen biwa von Grund auf und - während seiner Aktivität als Musiker - hat er sein ganzes Leben lang musikwissenschftliche Forschung getrieben.
    Infolge der großen Anstrengungen seit der Meiji-Ära, westliche Musik aufzunehmen, ist heute westliche Musik vielen Japanern vertrauter als japanische - traditionelle japanische Musik ist für Japaner zur Musik einer anderen Kultur geworden. Unter solchen Umständen denke ich, dass wir mit dieser Veröffentlichung, die als Lebenswerk von Herrn GUIGNARD bezeichnet werden kann, die Chance haben, die Großartigkeit einer traditionellen Gattung auf neue Weise zu entdecken. Mit den englischen und deutschen Übersetzungen denke ich, dass es kein Traum mehr ist, dass diese Musik auch im Ausland verbreitet und Anerkennung finden wird.
    Ich habe viele Erinnerungen an Herrn GUIGNARD, an mehrere seiner Bühnenauftritte, an gemeinsame Arbeit in einer Studiengruppe, an das gemeinsame Verfassen einer Abhandlung und an seine Mitarbeit bei einer Konzertreise nach Europa. Ich war immer beeindruckt von seinen aufrichtigen Bemühungen und möchte Herrn GUIGNARD meinen herzlichen Dank für alles aussprechen. Ich hoffe, dass diese Studie über chikuzen biwa von vielen gelesen und für weitere Studien verwendet wird.

  • SUDA Seishū

    Vorsitzender der Japanischen Biwa-Gesellschaft

    Herr GUIGNARD kam 1983 nach Japan, um sich ganz auf chikuzen biwa Studien zu konzentrieren; er erhielt Unterricht von der unvergesslichen biwa-Meisterin YAMAZAKI Kyokusui. Heute ist er ein repräsentativer chikuzen biwa Spieler, dessen Kunst von jedermann bewundert wird.
    In vorliegenden Projekt gibt GUIGNARD eine Einführung in 22 Balladen der Tachibana-Gesellschaft mit Hintergrundinformationen verschiedenster Art. Zudem hat er die 22 Balladen aufgenommen und macht sie in seiner Webseite jedermann zugänglich. So sollte man durch ihn an die unvergleichliche Meisterschaft von Frau YAMAZAKI erinnert werden.
    GUIGNARD hat alle japanischen Texte auch auf Englisch und auf Deutsch übersetzt, und so wird die Kunst des chikuzen biwa in epochaler Weise die ganze Welt erreichen. Für die biwa-Musik in Japan und für die Wertschätzung japanischer Kultur in der ganzen Welt ist diese Publikation von großer Bedeutung. Ich bewundere seine Leistung aus tiefem Herzen.
    Am 2. Juni 2017 habe ich in der Hatoyama Hall in Tokyo (Bunkyo Ward Otowa) den Kollegen Guignard die Ballade Nasu no Yoichi spielen hören und war sehr beeindruckt. Er gab zunächst für das Publikum von ungefähr 100 Personen, die sich in der großen Halle im 2. Stock versammelten, wo die Abendsonne herein schien, eine kurze Erklärung zum Zwischenspiel Paulownia. Mein Kollege demonstrierte, wie der gemächliche, regelmäßige Rhythmus dem Zuhörer die Vorstellung vom Gang eines Pferdes vermitteln soll.
    „Auf dem Rappen, groß und stark, in einem goldbeschlagnen Sattel sitzend trabte er einher. Den Bogen nahm er in die Hand und fasste kurz die Zügel, ließ sein Pferd zum Meer hin laufen.“
    Die Ballade erreichte den Höhepunkt, und die Atmosphäre am Konzertort lud alle an den Strand von Yashima ein, der in der untergehenden Sonne leuchtete.
    „(Der Fächer ) flattert einmal hin und einmal her im Frühlingswind und fällt dann unversehns hinunter. In der Abendsonne glänzt der rote Fächer, auf den weißen Wellen wiegt er sich – nicht schwimmend und nicht sinkend treibt er fort. Dort auf dem Meer die HEIKE schlagen auf die Reling voll Begeisterung, am Land die GENJI klopfen auf die Köcher“.
    Am Ende, nach einer kurzen Pause, brach das Publikum in Begeisterung aus und lobte die Leistung meines Kollegen überschwänglich. Nasu no Yoichi ist auch in der Sammlung der Tonaufnahmen enthalten, und so hoffen wir, Lob aus der ganzen Welt zu vernehmen.